Der nächste Streich aus Wolfsburg
Jetzt geht es Schlag auf Schlag beim VW Konzern. Kurz nachdem die Wolfsburger mit dem ID.3 das erste rein als Elektroauto konzipierte Fahrzeug auf den Markt gebracht haben, läuft mit dem ID.4 bereits der grosse Bruder vom Stapel. Weil der Kompakt-SUV das Zeug zum Familienauto hat, durfte unser kindererprobte Marketingmann Olivier den Elektroneuling einem Praxistest unterziehen.
Ohne Ecken und Kanten kommt es daher, unser Testfahrzeug aus Wolfsburg. Angefangen beim beruhigenden blau – oder Blue Dusk – über weiche Rundungen von Front bis Heck. Für die gute Aerodynamik wird auf unnötige Öffnungen verzichtet und den VW Designern dürfte entgegenkommen, dass die Marke auch bei Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor ohne Kühlergrill auskommt. Einzig die 21 Zoll grossen Felgen lösen sich leicht vom bewussten Understatement. So soll denn das Auto auch möglichst vielen Menschen weltweit gefallen und wird in dieser Form auch ausserhalb Europas in China und den USA gebaut und verkauft werden. In der Schweiz sind die Modelle «Pro Performance 1st» für CHF 53'100.- sowie «Pro Performance 1st Max» für CHF 63'650.- bereits heute bestellbar.
Wie der ID.3, nur schöner
Wie sein kleiner Bruder, ist der ID.4 auf der Grundlage des neuen Modularen E-Antriebsbaukastens (MEB) aufgebaut. Batterie- und Antriebstechnologie sind also identisch mit dem ID.3. Ebenso der Radstand der beiden Fahrzeuge (276.5 cm). Auch im Cockpit gibt es bei Bildschirmen und Bedieneinheiten kaum Unterschiede. Wer das beim ID.3 schon wenig überzeugend fand, dürfte auch hier bei seiner Meinung bleiben (vergleiche unseren ID.3 Testbericht). Die Touch-Slider für Temperatur und Lautstärke bleiben irgendwie unpraktisch und auch die Bedienelemente am Lenkrad geben zu wenig haptisches Feedback. So war uns Beispielsweise auch nach 400 Autobahnkilometern nicht klar, wie beim Tempomaten Zehner und Einer Schritte voneinander unterschieden werden können.
Bei der Materialwahl gelang Volkswagen dafür eine deutliche Aufwertung. Das Zusammenspiel aus Kunstlederoberflächen, Hartkunststoffen und Klavierlackelementen besticht durch sorgfältige Verarbeitung und gute haptische Qualitäten. Überhaupt überzeugt das Auto mit seinen 4,7 Metern Länge nicht zuletzt dank dem grossen Panoramaglasdach mit einem grosszügigen und komfortablen Raumgefühl.
Agil und wendig, aber nicht explosiv
Um eine Urlaubsfahrt in den Süden zu simulieren, haben wir den Elektro-SUV auf der Nord-Süd-Achse auf einer Strecke von gut 200 Kilometern von Zürich nach Bellinzona getestet. Die Strecke bestand weitgehend aus Autobahnen. Bei winterlichen Temperaturen zwischen 4 bis 10 Grad betrug der durchschnittliche Verbrauch rund 21 Kilowattstunden auf 100 Kilometern. Von der Effizienz her ist das ein guter Wert für seine Klasse, liegt allerdings etwas über dem derzeitigen Durchschnittswert von Elektrofahrzeugen. Mit der Batteriekapazität von 77 Kilowattstunden liegt die Reichweite bei diesen Bedingungen eher zwischen 360 und 400 Kilometern als den im Prospekt angegebenen 522 Kilometern nach WLTP. Gleichwohl sind die von Volkswagen angegebenen 17,7 – 18,9 kWh/100 km bei sommerlichen Temperaturen im urbanen Verkehr nicht unrealistisch.
Der 150 Kilowatt (204 PS) Heckantrieb beschleunigt den Kompakt-SUV in 8,5 Sekunden von 0 auf 100 km/h. In der Elektrowelt haut uns das nicht mehr aus den Socken, aber das will dieser Wagen vielleicht auch nicht. Vielmehr scheint er auf ein komfortables und störungsarmes Reiseerlebnis ausgelegt zu sein. Das rundliche 2,1 Tonnen Gefährt fährt sich agil und wendig wie ein Stadtflitzer. Zudem bleibt es im Innern auch bei hoher Geschwindigkeit und nasser Fahrbahn immer angenehm ruhig.
Kein One Pedal Driving
Einer der Effizienzvorteile von Elektroautos ist das Zurückgewinnen von Bremsenergie, die sogenannte Rekuperation. Anders als andere Hersteller verzichtet Volkswagen bislang auf die konsequenteste Form der Rekuperation, das «One Pedal Driving», bei dem ein Fahrzeug praktisch nur noch mit dem Gaspedal gefahren werden kann. Wer sich einmal daran gewöhnt hat, wird diese neue Art des Fahrens sehr angenehm finden. Der ID.4 verfügt aber immerhin über die zwei verschiedenen Fahrmodi «D» und «B». Bei «D» rollt der Wagen ganz normal aus und rekuperiert nur bei Betätigung der Bremse, während er bei «B» beim Loslassen des Gaspedals leicht rekuperiert. Es ist sicherlich Geschmackssache, aber aus unserer Sicht schade, dass uns «One Pedal Driving» seitens VW verwehrt bleibt.
Top Assistenzsysteme, leichte Verbesserungen bei Software
Die Assistenzsysteme aus Wolfsburg können sich sehen lassen. Der ID.4 verfügt über einen auf Autobahnen sehr zuverlässigen Spurhalteassistenten, der auch nach einem Spurwechsel wieder automatisch einsetzt. Auch die Verkehrsschilderkennung funktioniert im Überlandverkehr sehr gut und passt vorausschauend die Fahrgeschwindigkeit automatisch an. Hinzu kommt ein hilfreiches Augmented Reality Head-up-Display, das unter anderem Tempolimits und Navigationsinformationen auf die Frontscheibe projiziert. Wieder in die Kategorie «störungsarmes Reisen» fallen die massvollen Warnhinweise durch kurze Vibrationen am Lenkrad und dezente optische Impulse.
Auch wenn es die Entwickler wohl nicht mehr hören können, macht die Software weiterhin wenig Freude. Das Touch-Display reagiert immer wieder verzögert und hat seine Hänger. Auf unserer Testfahrt stürzte das System einmal ohne ersichtlichen Grund komplett ab und zwang uns dazu, die auf der Strecke bis zur nächsten Abfahrmöglichkeit ohne Geschwindigkeitsanzeige und sämtliche anderen Fahrinformationen auszukommen. Ein richtiger Neustart des Systems war erst möglich, als wir uns mit dem Schlüssel für rund 10 Minuten ausserhalb des Funkbereichs des Fahrzeugs aufhielten.
Navigation, Klima, Anrufe und Medien funktionieren auch mit Sprachsteuerung, wobei man als Schweizer einen Moment braucht, bis man den Dreh mit der richtigen Artikulation raus hat. Für uns besonders erfreulich: In der Zwischenzeit sind in der Navigation die GOFAST Schnellladestationen nachgetragen und werden bei der Routenplanung für Ladestopps berücksichtigt.
In 38 Minuten von 10 auf 80 Prozent
Mit einer Fahrt über gut 200 Kilometer erreichten wir bei einem Akkustand von 8 Prozent und einer Akkutemperatur von gut 20 Grad Celsius ideale Bedingungen für einen Ladetest. Beim GOFAST Schnelllader zeigt der ID.4 keine Anlaufschwierigkeiten und lädt während der ersten 10 Minuten bis zu einem Batterieladestand von 30 Prozent mit den von VW versprochenen 125 Kilowatt. Danach nimmt die aufgenommene Ladeleistung kontinuierlich ab und beträgt rund 65 Kilowatt für die letzten 10 Prozentpunkte bis zu den für Schnellladungen empfohlenen 80 Prozent. Unter idealen Bedingungen lässt sich also bei einem Ladestopp von 40 Minuten eine Reichweite von rund 300 Kilometern gewinnen.
Messbare Argumente für Familien
Wichtig für Familien: Bei Sitz- und Stauraum muss es sich nicht nur um ein Gefühl sondern um Zählbares in Zentimetern und Litern handeln. Bestätigen lässt sich das beim ID.4 für die Rücksitzbank, wo bei viel Beinfreiheit an zwei Sitzen Isofixhalterungen für Kindersitze angebracht sind. Wenn es sein muss, können hier also drei Kindersitze nebeneinander fixiert werden. Das Ladevolumen im Kofferraum ist mit 543 Litern angegeben. Das ist okay aber auch nicht berauschend, zumal sich die volle Kapazität erst bei der Verwendung des doppelten Bodens erschliesst. Immerhin ermöglicht der Klappdeckel aber ein schwellenloses Beladen, was der Rücken dankt. Gut gelöst ist auch eine Skidurchreiche beim mittleren Sitz. Leider hat sich Volkswagen bislang dagegen entschieden, den durch den fehlenden Verbrennungsmotor entstandenen Freiraum unter der Fronthaube für einen Frunk zu nutzen. Abgesehen davon, dass das Ladekabel also ebenfalls Platz im Kofferraum beansprucht, dürfte es auch etwas unpraktisch sein, dieses bei viel Gepäck da rauszuholen. Dafür verfügt das Auto über eine praktische Dachreling für eine Dachlast von bis zu 75 Kilogramm. Als weiterer Pluspunkt kommt hinzu, dass der ID.4 mit einer Anhängerkupplung für eine Anhängelast von bis zu 1'000 Kilogramm zu haben ist.
Fazit
Der VW ID.4 hat das Potential sich bei einem grösseren Publikum als familientaugliches Elektroauto durchzusetzen. Dafür sorgen der faire Preis ab CHF 53'100.-, das gute Platzangebot, seine Wendigkeit und das komfortable Fahrgefühl zu dem auch ausgereifte Assistenzsysteme beitragen. Wer mehr Stauraum braucht, kann mit Anhänger oder auf dem Dach erweitern. Die 77 kWh Batterie garantiert eine Reichweite, bei der selbst die Fahrt in den Süden mit ein paar ohnehin vernünftigen Verschnaufpausen möglich ist. Auch der jüngste Wurf der ID Familie verzichtet auf Allüren und dürfte sich als praktischer und alltagstauglicher Volkswagen im Elektrozeitalter bewähren.